Weltflucht, Machterhaltung und Rechthaberei

HERNE – Beim ersten interreligiösen Gespräch im zweiten Halbjahr Anfang März in der Herner Volkshochschule haben Vertreter der drei monotheistischen Religionen über Extremismus in Geschichte und Gegenwart in Judentum, Christentum und Islam diskutiert. „Wie lässt sich verstehen, dass die Religionen – die Liebe und Barmherzigkeit betonen – immer wieder auch Fanatismus hervorbringen?“ Diese Frage stand im Zentrum des Abends.

Dr. Michael Rosenkranz von der jüdischen Gemeinde Bochum-Hattingen-Herne belasten die gewaltvollen Auseinandersetzungen um das Heilige Land. Sie seien Folge einer radikalisierten Sicht auf Israel. Dabei habe Gott das Land Abraham und seinen Nachkommen (Isaak und Ismael) verheißen – also beiden Völkern. Der Islamwissenschaftler Hüseyin Inam beklagte, dass jedes Attentat irgendwo in der Welt die Angst vor dem Islam schüre und auch in Herne den Druck auf Muslime erhöhe, sich von Gewalt zu distanzieren. Die muslimische Welt stehe seit 150 Jahren nicht mehr auf sicheren Füßen und habe viele Probleme. Die Schattenseiten der Globalisierung, weltweite Krisen und Konflikte seien unüberschaubar und würden viele verunsichern. Fundamentalismus aller Religionen sei Ausdruck von Flucht aus der Welt, in der sie sich unterlegen fühlen, in die Hörigkeit geschlossener Gruppen. „Deren autoritäre Lebens-Anweisungen versuchen sie dann der ganzen Welt aufzuzwingen“, so Inam.

„Es gibt Gläubige, die die Bibel oder den Koran wortgetreu nehmen als Gottes Generalplan für die Erlösung der Welt“, sagte Pfarrerin Katharina Henke, Islambeauftragte des Kirchenkreises Herne. Das sei das Kennzeichen aller Fundamentalisten. Sie würden Gottes Willen in die eigene Hand nehmen, um den Himmel auf Erden zu bringen; Extremisten könnten dabei alle Gewaltspuren, die in einer Religion stecken, freisetzen. „So werden weltweit Millionen Menschen unterdrückt, schikaniert und umgebracht, weil sie an einen anderen Gott glauben, an Gott zweifeln oder ihren Glauben anders praktizieren.“
Im Kern – darin waren sich die Referenten einig – gehe es bei solchen Konflikten aber nicht um Religion, sondern um weltliche Dinge: Besitzstandswahrung, Machterhaltung oder Rechthaberei. Menschen lassen sich für diese Ziele instrumentalisieren. „Die Schwertmission der Christen liegt lange zurück, dennoch sind wir nicht fein raus“, meinte Henke und verwies auf Evangelikale in Amerika, die Homosexualität, Abtreibung und die Evolutionstheorie als Frevel wider den Schöpfer brandmarken. „Sie gehören zu den wichtigsten Stützen von Donald Trump.“ Der katholische Priester Reinhard Hörmann erinnerte an die Auseinandersetzungen in der Katholischen Kirche gegen „die Moderne“. Anderen sei der Glaube abgesprochen und sie seien als Ketzer verurteilt und exkommuniziert worden. Die derzeitige Abwendung der Enttäuschten und Verärgerten von der Kirche sorge ihn.

Hoffnungsvoll stimmte das Resümee von Rosenkranz: „Ein Mensch, der in sich ruht und seiner Sache sicher ist, hat es nicht nötig, gegenüber anderen Recht zu haben, andere zu bedrängen oder das Eigene mit Gewalt zu verbreiten.“ Jeder könne für sich entscheiden, ob er oder sie religiöse Texte auf menschenverachtende Weise auslegt oder so, dass Barmherzigkeit und Gerechtigkeit aufleuchten. KH