"Corona hat die Existenzängste verschärft"

In loser Reihe fragen wir verschiedene Menschen nach ihrer Meinung zu Corona, den Maßnahmen und den Folgen. Zuletzt hat Dagmar Spangenberg-Mades Stellung genommen. Dagmar Spangenberg-Mades leitet seit gut 28 Jahren das Arbeitslosenberatungs- und Begegnungszentrum Zeppelin. Wir wollten von ihr wissen, wie sich die Corona-Krise auf ihren Arbeitsalltag auswirkt und wie sie sich auf die Lebensbedingungen von Menschen auswirkt, die am Existenzminimum leben müssen.

Unsere Kirche: Frau Spangenberg-Mades, haben sich die Probleme, mit denen die Menschen zu Ihnen kommen, in der Corona-Zeit verändert?

Spangenberg-Mades: Bei denen, die schon vor Ausbruch der Pandemie arbeitslos und im SGB II-Leistungsbezug (Hartz IV) waren, wurden die wirtschaftlichen Existenznöte verschärft. Zwar war in Herne glücklicherweise die Tafel durchgängig geöffnet, aber andere Einrichtungen wie Kleiderkammern, Mittagstische und Lebensmittelausgaben etwa von Kirchengemeinden mussten schließen. Zudem sind die Preise für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs gestiegen. Außerdem haben Menschen, die von SGB II-Leistungen leben müssen, in der Regel keine finanziellen Rücklagen, um etwa Mehrausgaben für Hygieneartikel zu finanzieren. Bekanntermaßen waren ja die Regelleistungen im SGB II schon vor der Corona-Pandemie nicht bedarfsdeckend. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 2014 festgestellt, dass die Leistungen gerade noch als verfassungskonform angesehen werden können, hat dies aber mit der Auflage versehen, dass der Gesetzgeber im Falle von Preissteigerungen unverzüglich zu reagieren habe. Diese existenzielle Not kam auch immer wieder in den Beratungsgesprächen zum Ausdruck. Das Zeppelin-Zentrum und das Arbeitslosenzentrum in Herne haben in diesem Zusammenhang wie bundesweit viele andere Initiativen einen Corona-Zuschlag gefordert. Außerdem forderten wir, u.a. auch die Kosten für einen Computer zum E-Learning für Kinder aus einkommensschwachen Haushalten unbürokratisch und zügig zu gewähren. Gleich zu Beginn der Krise erreichten uns hierzu Anrufe betroffener Eltern. Hier ist der für uns unbefriedigende Stand der Dinge,  dass zukünftig  auf die Schulen die Aufgabe zukommt, bedürftige Kinder ausfindig zu machen und entsprechende Geräte zu verteilen.

Durch die Corona-Krise treten nun aber auch verstärkt die Menschen an uns heran, die jetzt arbeitslos wurden oder denen Arbeitslosigkeit droht. Derzeit haben in Herne 901 Betriebe Kurzarbeit angemeldet, über 10000 Menschen sind davon betroffen. In diesem Zusammenhang haben die Menschen Fragen zum Arbeitslosengeld 1 oder Kurarbeitergeld, zu den Wegen der Beantragung von Leistungen, zu aufstockenden Leistungen wie Kinderzuschlag, Wohngeld aber auch zu Aufstockung durch SGB II- Leistungen. Einige Klienten haben auch ihren Minijob verloren, mit dem sie beispielsweise ihre Rente aufgebessert haben. Hier geht es dann in der Beratung um Aufstockung durch Sozialhilfe.

UK: Können Sie kurz beschreiben, wie man in einem Beratungs- und Begegnungszentrum arbeitet, wenn persönliche Kontakte unterbleiben müssen?

Sp-M: Sehr traurig ist, dass unser Café mit Mittagstisch und Gruppenangeboten sowie die Kleiderkammer derzeit nicht geöffnet werden können, da wir die Vorgaben aus der Corona-Schutzverordnung auf Grund der räumlichen Gegebenheiten nicht erfüllen können. Ich erhalte täglich Anrufe von Besuchern, Kunden und unseren Ehrenamtlichen, die sich sehnlichst wünschen, dass das Zentrum wieder seinen Normalbetrieb aufnimmt. Einige Besucher und Ehrenamtliche leiden sehr stark unter der Situation und sehnen sich nach Gemeinschaft. Viele von ihnen sind alleinstehend und haben auch das ein oder andere Päckchen zu tragen. Ich habe gemeinsam mit einigen Ehrenamtlichen eine Art Telefonkette initiiert, um zu gewährleisten, dass sich alle untereinander regelmäßig kontaktieren können. Außerdem haben wir einen kleinen Lieferservice-Mittagstisch aufgebaut. Unser Mitarbeiter Christian Glasner und unser Ehrenamtler Detlef Oppelt kochen und beliefern jetzt die Menschen, die nicht zu uns kommen können. Durch diese Kontakte wird auch gewährleistet, dass wir mitkriegen, wann weitere Hilfe und Unterstützung vonnöten ist.

Was die Beratungsstelle angeht, konnte ich bis jetzt nur kontaktreduziert beraten, d.h. telefonisch, postalisch oder via E-Mail. Es fehlt auf jeden Fall die direkte Begegnung mit dem Einzelnen oder der Familie. Gerade bei Erstkontakten bringt das persönliche Gespräch größere Aufschlüsse über Gesamtsituation und Lebenslage der betroffenen Menschen. In vielen Fällen gelingt die Unterstützung aber auch ohne direkten Kontakt. Der Klient schildert sein Anliegen telefonisch und wird gebeten, die entsprechenden notwendigen Unterlagen einzureichen. Nach Sichtung bespreche ich dann wieder mit dem Klienten sein weiteres Vorgehen telefonisch. Insgesamt ist diese Art zu beraten aber komplizierter, weil man die Papiere nicht gemeinsam durchschauen oder etwas direkt erklären oder vorrechnen kann. In manchen Fällen ist eine persönliche Beratung unverzichtbar, denn es gibt immer wieder sehr komplexe Problemlagen, beispielsweise existenzielle Nöte gepaart mit psychosozialen und gesundheitlichen Problemen. In diesen und anderen notwendigen Fällen wird es zukünftig wieder möglich sein, ein persönliches Beratungsgespräch nach telefonischer Terminvereinbarung und unter Einhaltung der Schutzvorschriften anzubieten.

UK: Was sollte die Gesellschaft aus der Corona-Krise lernen? Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, das sich nachhaltig ändern muss – im Verhalten jedes Einzelnen aber auch gesellschaftlich?

Sp-M: Dass sich in kurzer Zeit das Leben für uns alle so stark verändert, hat sich wohl niemand vorstellen können; Menschen erkranken, sterben, geraten in Existenznot; Zukunftsangst grassiert und Planungen werden über den Haufen geworfen – und das alles durch ein Virus, was wir nicht wahrnehmen können. Dass in dieser Situation Populisten sich die Ängste der Menschen für ihre Zwecke zu Nutze machen, halte ich für eine ernstzunehmende Bedrohung für unser Gemeinwesen und unsere Demokratie.

Insgesamt hat uns die Krise sehr deutlich gemacht, dass wir so nicht weitermachen können. Wir (jedenfalls die meisten von uns) haben uns eigentlich doch für die Macher gehalten und haben es bislang nicht für nötig befunden, unseren Lebensstil zu hinterfragen. Damit haben wir Kosten produziert, die andere begleichen sollen. Wir zerstören die Natur und die Lebensgrundlage anderer, wir schaffen Fluchtursachen und weisen die Geflüchteten an den europäischen Grenzen zurück oder stecken sie in überfüllte Lager wie Moria. Wir lassen Billigkleidung in Asien produzieren, weil wir mit den Armen in Europa dafür einen Markt haben. Fleisch ist schon lange kein Luxusgut mehr, sondern auf Grund ausbeuterischer Beschäftigung von Menschen aus Südosteuropa ein Massenprodukt, das billiger ist als Gemüse. In diesen und vielen weiteren Fragen müssen wir uns als Christen einmischen und müssen eintreten für gerechtere Lebensbedingungen hier und überall auf der Welt.

Viele Menschen hoffen jetzt, dass sie und ihre Lieben diese Krise unbeschadet überstehen. Gerade jetzt sollten wir aber auch unseren Blick weiten und die nicht wieder übersehen, denen es schon vor der Pandemie schlecht ging, ob es nun die alleinerziehende Mutter in Hartz IV, der rumänische Zwangsarbeiter, die Flüchtlingsfamilie in der städtischen Unterkunft, die Menschen in der Sahelzone oder Näherinnen in den Fabriken Asiens sind. Es gab und gibt ja viele Beispiele der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität in den letzten Wochen und Monaten. Daran sollten wir anknüpfen.

Ich glaube, wir müssen öfter innehalten und uns auch klarmachen, dass wir gar nicht so viel mehr brauchen, als das was wir haben. Was wir jetzt in der Krise wohl am meisten vermisst habenen, vor allem zur Zeit des Lockdown, waren doch gerade Kontakte zu anderen Menschen. Es wäre schön, wenn es uns zukünftig um mehr Zwischenmenschlichkeit, Nächstenliebe, Rücksicht aufeinander und Solidarität ginge, als um mehr Konsum.

Und schließlich sollten wir, wenn diese Krise einmal vorüber sein wird, nicht diejenigen sofort wieder vergessen, die während der Krise viel für uns getan haben. Die persönlichen Möglichkeiten, sich vor dem Virus zu schützen, sind ja sehr unterschiedlich. Manche Personen tragen ein hohes Risiko, z.B. diejenigen, die mit Infizierten arbeiten oder die, die ungeschützt auf Baustellen oder in Werkstätten im Einsatz sind. Vergessen dürfen wir auch nicht wieder, dass Menschen aus den armen Teilen Europas gezwungen sind, hier bei uns in ausbeuterischen Arbeits- und Wohnbedingungen zu leben. Die Masseninfektionen in den Schlachtbetrieben haben uns dies ja vor Augen geführt. Und last but not least sollten wir die Leistung derjenigen, die täglich mit sehr vielen Menschen in Kontakt kommen, auch nach der Pandemie noch würdigen. Bewundernswert finde ich beispielsweise den Einsatz von Mitarbeitenden von Supermärkten, die sehr viele Kundenkontakte haben, die ihrerseits jedoch immer öfter die Schutzvorschriften missachten.