"Ich bin sehr verärgert über die Vorschriften."

#Nachgefragt. In loser Reihe fragen wir verschiedene Menschen nach ihrer Meinung zu Corona, den Maßnahmen und den Folgen. Zuletzt hat Silke Haendel Stellung genommen. Silke Haendel ist als Leitung des Kindergartens und Familienzentrums der evangelischen Kirchengemeinde Wanne-Eickel tätig, wo 53 Kinder im Alter von vier Monaten bis sechs Jahren in drei Gruppen betreut werden. Kindertageseinrichtungen sind im Gegensatz zum ersten Lockdown weiterhin geöffnet, wenn auch eingeschränkt mit 10 Stunden pro Woche weniger Betreuungszeit. Die Belastung für die Erzieherinnen und Erzieher ist enorm. Wir wollten von Ihr wissen, wie sich die Pandemie auf den Kita-Alltag ausgewirkt hat.

UK: Strenge Hygienevorschriften, die auch von den Kleinen eingehalten werden müssen, bestimmen den Kita-Alltag. Frau Haendel, worauf müssen Sie achten? Wie empfinden Sie die Einschränkungen und die Maßnahmen zum Infektionsschutz im Kita-Alltag und wie ist es für die Kinder?
Haendel: Die strengen Hygienemaßnahmen, wie z.B. häufigeres Händewaschen, müssen selbst von den Kleinsten eingehalten werden. Diese seit dem ersten Lockdown bestehenden erweiterten Vorschriften haben die Kinder mittlerweile gut verinnerlicht. Eine vom Land finanzierte Alltagshelferin unterstützt uns bei der Durchführung der erforderlichen Hygienemaßnahmen, aber auch die pädagogischen Fachkräfte sind damit zusätzlich beschäftigt.
Dann gibt es zusätzlich viele Maßnahmen zum Infektionsschutz. Dazu gehört, dass die Kinder festen Betreuungsgruppen und Fachkräften in bestimmten Räumen zugeordnet sind. Kinder sind aber von Natur aus Forscher, Entdecker und Erfinder, die sich kreativ und aktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen wollen. Dazu brauchen sie Bewegungsfreiheit und Entfaltungsmöglichkeiten, denn Kinder sind selbst die Gestalter ihrer „frühkindlichen“ Bildung, wobei sie von den pädagogischen Fachkräften begleitet werden. So erwerben sie die Kompetenzen, die sie zum Leben brauchen. Das alles geht zurzeit so nicht. Alleine durch die fehlenden Kontakte zu den anderen Kindern und den Mitarbeitenden sind die Kinder in ihrem freien Handeln und somit in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Der Kindergartenalltag orientiert sich in diesen Zeiten mehr an Corona-Schutzverordnungen als an den kindlichen Bedürfnissen. Selbst auf dem Außengelände werden die verschiedenen Kindergruppen durch ein Flatterband voneinander getrennt.
Ich persönlich bin sehr verärgert über die Vorgaben, die uns vom Ministerium zum Schutz vor Infektionen mit dem Corona-Virus gemacht werden. Von Einhaltung der Bildungsgarantie im Pandemiebetrieb kann meines Erachtens kaum die Rede sein. Meiner Meinung nach geht es hier nicht um das Kindeswohl, sondern um eine Betreuung, damit die Eltern die Möglichkeit haben, ihrer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Vom angeblichen Schutz vor Corona, der durch die verordneten Schutzmaßnahmen nicht im Geringsten gegeben ist, ganz zu schweigen. Im Privaten soll sich maximal ein Hausstand mit einer weiteren Person treffen – in der Kita kommen bis zu 25 Personen, davon 23 Kinder, ohne jeglichen Schutz auf engstem Raum und ohne Mindestabstand zusammen. Diese Situation macht auch die Kinder unzufrieden und unruhig. Corona ist den ganzen Tag präsent. Kastanien werden als Corona-Virus identifiziert und das Flatterband auf dem Außengelände lässt die Kinder fragen, wann das doofe Corona endlich weg ist. Die Bedürfnisse der Kinder bleiben auf der Strecke.

UK: Eltern dürfen die Kinder bringen, allerdings sind die Betreuungszeiten eingeschränkt. Woran ist die Belastung der Familien spürbar? Oder überwiegen Erleichterung und Dankbarkeit, weil die Kinder (im Gegensatz zum ersten Lockdown) weiterhin in die Kita gehen können?
Haendel: Diesmal blieb die Kita für alle Kinder geöffnet, wobei die Betreuungszeit um zehn Stunden reduziert war. Die Eltern waren allerdings gehalten, ihre Kinder, wenn irgend möglich, zu Hause zu betreuen. Diese Situation hat zum einen bei den Eltern Erleichterung hervorgerufen, aber durch den Appell hat das Ministerium die Verantwortung an die Eltern weitergegeben. „Haben wir wirklich alle privaten Betreuungsmöglichkeiten ausgeschöpft? Sollen wir doch die Großeltern in die Betreuung einbeziehen, obwohl sie zur Risikogruppe gehören?“ – Fragen wie diese haben gezeigt, welchen Gewissenskonflikten die Eltern ausgesetzt sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich unseren Eltern ein großes Lob aussprechen: Wir waren begeistert davon, wie engagiert sie trotz der Belastung durch Arbeit, Homeoffice und Kinderbetreuung waren. Jetzt können wieder alle Kinder in die Einrichtung kommen, wobei die eingeschränkten Betreuungszeiten erstmal beibehalten werden. Mit Blick auf Wichtigkeit von Bindung und Beziehung hätte ich mir einen Stufenplan zur Rückkehr gewünscht, um dem Bedürfnis der Kinder besser gerecht werden zu können. Einige von ihnen haben die Kita immerhin fast zwei Monate nicht besucht. Es geht hier um kleine Menschen und nicht um Computer, die nach dem Homeoffice wieder zurück ins Büro ziehen.

UK: Empfinden Sie etwas als bedeutend anders im Vergleich zum ersten Lockdown?
Haendel: Im ersten Lockdown waren die Vorgaben klarer und es schien, als gebe es auch einen Blick auf die Mitarbeitenden und Kinder in den Kitas. Dieser Blick fehlt meines Erachtens in diesem zweiten Lockdown. Die Kitas sind geöffnet und während der ganzen Zeit hätten alle Kinder die Kita besuchen können – mit vielen Personen ungeschützt auf engem Raum. Die einzigen, die sich durch einen Mundschutz schützen können, sind die Erwachsenen.
Es gibt im Übrigen auch Momente, in denen der Mundschutz angemessenes Handeln verhindert – schlicht durch die fehlende Mimik. Wenn Kinder weinen, weil sie beispielsweise gerade jemanden sehr vermissen oder sich verletzt haben, dann brauchen sie nicht nur tröstende Worte, sondern auch ein freundliches Gesicht oder ein Lächeln, damit sie sich beruhigen können. Mit Mundschutz geht das nicht. Die pädagogischen Fachkräfte stehen täglich in dem Konflikt zwischen notwendigem Infektionsschutz und Erfüllung ihres Betreuungsauftrags.
Meiner Meinung nach gibt es viele Punkte, die von den politisch Verantwortlichen überdacht werden sollten, da es hier um Menschen geht, die die Zukunft von morgen gestalten werden.

UK: Online ist das neue persönlich: Schulunterricht, Musikunterricht und zum Teil auch Sportkurse sind virtuell ins Kinderzimmer eingezogen. Mit den Großeltern wird geskypt. Wie halten Sie den Kontakt zu den Kindern, die momentan zu Hause bleiben? Videochat statt persönliches Gespräch – funktioniert das in der Kita? Gibt es dadurch vielleicht sogar neue Impulse?
Haendel: Online-Meetings kann man in die zukünftige Arbeit mit einfließen lassen – jedoch eher in der Kommunikation mit den Eltern. „Online-Elternabende“ oder Elterninformation über ein „Elternportal“ sind sicher sinnvoll, das gilt jedoch nicht für die Kommunikation mit Kindern im Alter von vier Monaten bis sechs Jahren.
Im ersten Lockdown haben mein Team und ich mit den Kindern telefoniert, es gab eine Eltern-Kind-Rallye, Eltern-Kind-Aktionen zum Mutter- und Vatertag, eine Osterüberraschung, Geburtstagsvideos, Bircher-Müsli to go, Mitmach-Video-Gottesdienste, Videos für die „Vorschulprofis“ und vieles mehr. Darüber hinaus hat unser Förderverein für alle Kinder ein Bücherpaket finanziert. Jetzt, im zweiten Lockdown, wo wir sofort mit der Kinderbetreuung beschäftigt waren und uns auch immer wieder Personalmangel geplagt hat, hatten wir kaum Zeit für die Vorbereitung solcher Aktionen. Zu Weihnachten hat jede Familie Weihnachtspost bekommen, es gab Geburtstagskarten für die Geburtstagskinder, die die Kita nicht besucht haben. Unser Förderverein hatte auch wieder eine Überraschung to go für alle Kinder.
Mir ist es wichtig, auch hier nochmal deutlich zu machen, dass die geringe Anzahl solcher Aktionen kein Zeichen mangelnden Interesses pädagogischer Fachkräfte an den Kindern ist, sondern vielmehr Ausdruck der personellen Überlastung in den Einrichtungen. Hinter den Kulissen gehen die normalen Dinge des Kita-Alltags (Neuaufnahmen, Rezertifizierung von Familienzentren etc.) normal weiter. Hinzu kommen die ständig wechselnden neuen Vorgaben im Rahmen der Pandemie, die ständiges Um planen verlangen – und dies nicht selten von heute auf morgen. Außerdem ist nicht zu vergessen, dass das Personal in den Kindertageseinrichtungen wie jeder andere mit den pandemiebedingten Herausforderungen im privaten Umfeld zu kämpfen hat (Kinderbetreuung, Home-Schooling, Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger etc.).
Es ist ein Fiasko, dass während der Pandemie die Kinder, die das Herzstück der Arbeit in den Kitas sein sollen, in den Hintergrund geraten und es vor allem um Einhaltung von Hygienemaßnahmen und Maßnahmen zum Infektionsschutz geht. Diese Tatsache sollte in den zukünftigen Überlegungen des Ministeriums zum Kita-Betrieb während der Pandemie ganz klar in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Kinder gehören in den Mittelpunkt! Weil auch der Infektionsschutz unabdingbar ist, meine ich, dass die Mitarbeitenden in den Kindertageseinrichtungen möglichst bald geimpft werden sollten.

UK sagt „Vielen Dank!“