„Machtgerangel zwischen den europäischen Staaten“

Ein Kommentar des Flüchtlingsreferates des Evangelischen Kirchenkreises Herne zum 70. Jubiläum der Genfer Flüchtlingskonvention.

Für einen Moment schließe ich die Augen und lasse das Gelesene in mir wirken. Wie wohltuend – alle Staaten dieser Welt sollten Menschen aufnehmen, die „Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ haben. In allen Ländern gleichermaßen! Natürlich setzt das voraus, dass dieser sehr demokratische Geist in allen Ländern der Welt vorherrscht. Bislang leider ein Traum.

Geschrieben 1951, auch und gerade, weil zukünftig Schicksale verhindert werden sollten, wie sie beispielsweise durch das Handeln der Schweiz im Dritten Reich, nicht verhindert sondern forciert wurden. Die Schweiz gewährte im Dritten Reich jüdischen Flüchtlingen aus Angst vor „Überfremdung“ keinen Schutz, sie galten nicht als politische Flüchtlinge und wurden nach Deutschland zurückgeschickt und dort ermordet. Gewisse Parallelen zu heute muss man nicht suchen, sie drängen sich auf und lassen einen gruseln.

Darum verweile ich ein wenig noch beim Traum von einer demokratischen Welt. Was das für meine/ unsere Arbeit bedeuten würde! Endlich der Fokus allein und geschärft auf ein gutes und gerechtes Asylverfahren mit der nötigen Zeit der Vorbereitung und einer grundlegenden Bereitschaft zur Aufnahme, so der Geist der Genfer Flüchtlingskonvention 1951! Wie sehr würde ich mich freuen, in einer Welt zu leben, die allen Menschen aus diesen genannten Gründen Schutz gewährt, sie nicht zurückweist, ausweist, bereits im Vorfeld sortiert und Anträge als unwirksam abweist, sie in Drittstaaten zurückschiebt…

Doch zurück zu Fakten und Realitäten, denn die Konvention existiert und muss bewahrt werden: 149 Staaten sind der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten. Sie sehen es als Verpflichtung an, Rechte von Geflüchteten zu achten und zu verwirklichen. Ein globales System, das Flüchtlingen Schutz gewährt, war niemals leicht aufrechtzuerhalten. Wieder und wieder wurde es missachtet. Denken wir die Zurückweisungen an den Grenzen Europas, die vielen Toten im Mittelmeer, an Frontex und alle Formen, um Menschen abzuhalten.

Wie sehr der Erfolg der Genfer Flüchtlingskonvention davon abhängt, was in Europa passiert, zeigen Daten zur Erfolgsquote von weltweit gestellten Asylanträgen. Zwischen 2013 und 2019 wurden laut des UNHCR:

- 14 Millionen Asylanträge weltweit gestellt.

- 4,2 Millionen Menschen wurde internationaler Schutz gewährt, nachdem sie ein Asylverfahren durchlaufen hatten.

Allein in Deutschland, Schweden und Österreich wurde dabei 1,4 Millionen Menschen internationaler Schutz nach einem Asylverfahren gewährt, ein Drittel der Gesamtzahl weltweit.

Mehr als die Hälfte aller positiven Asylentscheidungen wurde in europäischen Demokratien getroffen: der EU, Großbritannien, der Schweiz und Norwegen.

Im gleichen Zeitraum gewährte Japan 657 Menschen internationalen Schutz, China niemandem. Schweden bot 223.000 Menschen Schutz, und übertraf damit als einzelnes Land mehr als zehn andere Staaten mit hohen oder mittleren Einkommen und insgesamt 3,8 Milliarden Einwohnern.

Was aber bedeutet es für die Zukunft von Asyl, wenn europäische Demokratien zunehmend eine erfolgreiche Politik der Zurückweisung an ihren Grenzen betreiben? Schon zwischen 2016 und 2019 fiel die Zahl der Menschen, denen weltweit nach einem Asylverfahren Schutzbedürftigkeit zugesprochen wurde, von 900000 auf 530000 pro Jahr.

Wir unterstützen und begrüßen den Beschluss der 2. Tagung der 19. Synode der Evangelischen Kirche von Westfalen 2021 nicht nur, sondern richten den dringenden Appell an alle demokratisch gesinnten Kräfte, diesen Beschluss nicht nur auf dem Papier zu belassen. Es heißt dort u.a.:

„Es bedarf dringend eines fairen gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das den völker- und menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU entspricht. Das schließt folgende Verpflichtungen für alle Mitgliedsstaaten ein:

- gleich hohe Standards eines fairen, rechtsstaatlichen Asylverfahrens

- menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten

- gleichwertige Lebensbedingungen, die Teilhabe garantieren, für Asylsuchende in allen Mitgliedsstaaten.“

Des Weiteren wird der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in Drittstaaten außerhalb der EU und der Zurückschiebung von Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU ohne Annahme eines Asylantrags eine klare Absage erteilt. Es wird betont, dass dies dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention zuwiderläuft.

Schauen wir nun auf dem Arbeitsalltag im Herner Flüchtlingsbüro: Der größte Teil der zu uns kommenden Flüchtlinge sind sogenannte Dublinfälle, haben ihren Fuß zuerst in ein anderes Land als Deutschland innerhalb Europas gesetzt. Keine große Kunst, wenn man etwas geografische Kenntnisse hat! Wir sind dann oft über einen langen Zeitraum mit der Verhinderung dieser Rückführung beschäftigt, die eigentliche Fluchtursache scheint zunächst völlig aus dem Blick zu geraten. Es ist und bleibt ein Machtgerangel zwischen den europäischen Staaten. Länder am Mittelmeer fordern zu Recht, dass die anderen und reicheren europäischen Staaten bitte einspringen sollen. Aber die Bereitschaft dazu bleibt gering.

Hinzu kommt, dass es die lange Liste der sicheren Herkunftsstaaten gibt, die von vornherein Menschen von Asyl ausschließt. Asylverfahren werden zumeist negativ beschieden und erst auf dem Gerichtsweg kann hier Änderung erfolgen. Das kann wiederum Jahre dauern, in denen die Menschen von Familiennachzug nur träumen können und auch nicht wirklich und sicher hier in Deutschland ankommen können. Es bleibt immer ein Schleudersitz auf einem Pulverfass. Eine endgültige Anerkennung bekommen die wenigsten.

Die Menschen benötigen Unterstützung und Beistand, fachliche Beratung und Vermittlung, Recherche und argumentative Vorbereitung für Anhörungen und Gerichtsverfahren. Das bindet Personal, an dem leider trotz politischer und inhaltlicher Rückendeckung seitens Land und Kirche gespart wird.
Nur zur Erinnerung: Das Flüchtlingsreferat Herne hatte Mitte bis Ende der 90er Jahre drei Vollzeitstellen, eine ABM in Vollzeit, eine halbe Stelle im Kinder-und Jugendbereich, einen Jahrespraktikanten. 2021 haben wir lediglich noch eine halbe Stelle, die sich zwei Mitarbeiterinnen teilen (jeweils mit zehn Wochenstunden!). Dennoch haben wir in den letzten eineinhalb Jahren gut 60 neuen Klienten, zum Teil mit Familie, in ihrem Verfahren unterstützend zur Seite gestanden. Hinzu kommen immer auch Klienten aus den Vorjahren, die inzwischen an der Verfestigung des Aufenthaltes arbeiten und Familiennachzüge planen.

Aber wir haben heute dank der vielen, auch digitalen, Möglichkeiten der Vernetzung und Zusammenarbeit ein gutes Netz für die Flüchtlinge in Deutschland gewoben und versuchen täglich, den Geist der Genfer Flüchtlingskonvention durch unsere Einrichtung wehen zu lassen, ihm gerecht zu werden und menschliche Schicksale wie die damals in der Schweiz niemals wieder zuzulassen.