Herne. „Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst geringgehalten wird.“ So beginnt der Paragraf 4 des Arbeitsschutzgesetzes, in dem die Verpflichtungen des Arbeitgebers in Bezug auf den Arbeitsschutz benannt sind. Langjährig Beschäftigte mit tariflicher Entlohnung und Sozialversicherungsschutz, regelmäßiger Arbeitszeit, garantierten Arbeitnehmerrechten und der Anbindung an einen Kreis von Kollegen werden diesen Satz vermutlich als eine Selbstverständlichkeit nehmen. „Dabei wird gerne vergessen, dass viele Menschen in Deutschland atypisch oder prekär beschäftigt sind“, so Dagmar Spangenberg-Mades, Leiterin des Zeppelin-Zentrums des Kirchenkreises Herne. Zu atypischer Beschäftigung zählen befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitjob mit maximal 20 Stunden, Minijobs oder Leiharbeit. „Im Jahr 2023 waren laut Statistischem Bundesamt 18,2 Prozent oder 6,9 Millionen Menschen in solchen Arbeitsverhältnissen tätig.“
Die Definition von „prekär“ ist laut Duden „durch Bitten erlangt, widerruflich, misslich, schwierig, heikel.“ Das lateinische Wort precarius sei zu übersetzen mit unsicher oder unbeständig. „Zu den Indikatoren für prekäre Arbeit gehören Befristung, unfreiwillige Teilzeit von maximal 20 Stunden und geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit, Niedriglohn, ausbleibende Gehaltszahlungen, Nichtgewährung von Urlaub, ungerechtfertigte Abzüge vom Lohn, fehlender Kündigungsschutz, unregelmäßige Arbeitszeit, Abrufarbeit, Null-Stunden-Verträge, übermäßige Arbeitszeit ohne angemessene Pausen, Schichtdienst, Feiertags- und Wochenendarbeit, fehlender Sozialversicherungsschutz, Mehrfachbeschäftigungen, ungesunde physisch anstrengende Arbeit, Gefährdung durch unzureichende Arbeitssicherheit, Zeitdruck, psychischer Druck, keine Arbeitnehmervertretung, keine Einbindung in einen Kollegenkreis, psychisch und physisch krank machende Arbeitsbedingungen“, zählt Spangenberg-Mades auf. „Solche Formen prekärer Beschäftigung werden von den Beschäftigten selten freiwillig gewählt.“ Die genannten Indikatoren werden herangezogen, um eine Beurteilung eines Beschäftigungsverhältnisses vorzunehmen, ob und inwieweit dieses als prekär anzusehen ist.
„Von prekärer Beschäftigung sind überdurchschnittlich häufig Beschäftigte in ausführenden Tätigkeiten, Frauen, junge Menschen und Zugewanderte betroffen“, sagt Spangenberg-Mades. „Besonders betroffen sind Arbeitnehmer in den Branchen Gastronomie, Bau, Landwirtschaft, Einzelhandel, Reinigungsgewerbe, Pflege, Logistik und Fleischindustrie.“
Durch prekäre Beschäftigung würden soziale Ungleichheiten verstärkt – Diskriminierung und sozial bedingte Risiken für psychische Erkrankungen könnten zunehmen, heißt es in einer Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses 2023. Insbesondere längerfristige prekäre Beschäftigung wirke sich auf die gesamte Lebenssituation aus; sie manifestiere Armut, führe zur Überschuldung oder einem Leben in beengten Wohnverhältnissen. „Psychische und physische Gesundheit werden auf Grund der geringen Ressourcen und der Unsicherheit bezüglich der Zukunftsplanung nachweislich stark beeinträchtigt“, betont die Leiterin des Zeppelin-Zentrums.
Die Beratungsstellen Arbeit aus Herne und Bochum werden gefördert durch das Land Nordrhein-Westfalen und den Europäischen Sozialfond. Sie beraten neben Erwerbslosen auch Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. Ihre Vertreterinnen und Vertreter machten mit dem Infostand vor der Kreuzkirche und einem begleitenden Auftritt in den Medien auf ihr Beratungsangebot aufmerksam. Gleichzeitig wollten sie für das Thema prekäre Beschäftigung sensibilisieren. Dazu führten sie Gespräche mit interessierten Passanten, die beispielsweise von ausstehenden Lohnzahlungen oder der Nichtplanbarkeit ihres Privatlebens berichteten, da der Arbeitgeber sie bei Bedarf jederzeit abrufen könne. Die Beraterinnen konnten anhand der Checkliste das jeweilige Arbeitsverhältnis gemeinsam mit den Ratsuchenden einschätzen, weiterführende Beratungstermine vereinbaren und Unterstützungsmöglichkeiten wie das Arbeitsschutztelefon und andere Anlaufstellen empfehlen.
Zukünftig wollen sich die Beratungsstellen Arbeit mit den Voraussetzungen für die Eindämmung von prekären Beschäftigungsverhältnissen im Rahmen weiterer öffentlichkeitswirksamer Aktionen beschäftigen. Dabei sehen sie in Aufklärung und Empowerment der von prekärer Arbeit Betroffenen einen entscheidenden Ansatz. Wie der europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss befürworten sie darüber hinaus u.a. genügend Ressourcen für die Durchsetzung von Rechtsvorschriften, in denen gute, gesunde und menschenwürdige Arbeitsbedingungen festgelegt werden ebenso wie Konsequenzen bei Nichteinhaltung – wie Ausschluss von öffentlichen Aufträgen und Beihilfen, sowie die Förderung von hochwertigen Arbeitsplätzen mit gesunden Arbeitsbedingungen. DSM
Die Beraterinnen und Berater der Beratungsstellen Arbeit in Herne und Bochum vor ihrem Info-Standes an der Kreuzkirche (von links): Ralf Kleinfelder (AWO-bobeq, Bochum-Wattenscheid), Dagmar Spangenberg-Mades (Zeppelin-Zentrum, Wanne-Eickel) und Sarah Peters (Caritasverband, Herne). FOTO: PRIVAT